Über eine Entwicklung der Schrift im herkömmlichen Sinn kann man im XX. Jahrhundert nicht mehr sprechen. Die Antiqua und die Fraktur wurden in den vergangenen fünf Jahrhunderten perfektioniert. Die Groteskschriften, die zunächst für Akzidenzen entstanden sind, werden diesem Prozess erst unterzogen.

Mehr dazu im „Exkurs: kurze Geschichte der Grotesk“.

In den vergangenen Jahrhunderten erfolgt die Schriftgeschichte kausal: eine Reihe an Ereignissen, Entdeckungen oder Entwicklungen bewirkt bzw. verursacht weitere Ereignisse… Seit dem XX. Jahrhundert verläuft die Schriftgeschichte eher phänomenologisch: die auftretenden Ereignisse bzw. Strömungen oder Richtungen beeinflussen sich zwar gegenseitig, doch sie finden häufig parallel statt und erreichen nicht mehr so hohen Wirksamkeitsgrad wie früher; sie bleiben Modeerscheinungen der Zeit – Phänomene eben. 37

Das XX. Jahrhundert nimmt zunächst den industriellen Aufschwung der „Arts & Crafts“ Epoche sowie die dekorative Ornamentik des Jugendstils auf.

Die Schrift selber wird einem Mode-Wandel unterzogen und an die jeweiligen Strömungen angepasst (manchmal sogar missbraucht): sei es an die informative Sachlichkeit der Industrie, an die „-Ismen“ (Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Expressionismus), Art Deco oder die Elementare Typografie des Bauhauses usw.

 

Futurismus: die Befreiung des Wortes

Thumbnail image carrà Diese in Italien um 1909 entstandene Bewegung ist die erste avantgardistische Strömung des Jahrhunderts. Programmatisch nimmt sie das Wort „futuro“ (it. Zukunft) in ihr Manifest auf, verwirft alles langsame, konservative, unmoderne, traditionsbehaftete (= passatistische) und schreibt „Freiheit“ auf ihre Fahnen. Futurismus – verglichen mit anderen Bewegungen des beginnenden Jahrhunderts – bedient sich am häufigsten der Typografie (Lettrismus). Interessant sind für die Futuristen vor allem die Wörter, während die Buchstaben selbst nur für gestalterische und optofonetische Zwecke gebraucht werden. 38 Der literarische Inhalt bleibt meist unangetastet, doch der Akt der „gestalterischen Befreiung“ reizt die Futuristen.

Die Glyphen selbst werden in verschieden Größen und Farben, in verschiedenen Stilen und Familien nebeneinander gesetzt; die mathematischen Zeichen ‚+‘ und ‚=‘ werden gebraucht, „um gewisse Bewegungen hervorzuheben und ihre Richtung anzugeben“. 39

Ein Aspekt sorgt bei den italienischen Futuristen für Kontroverse: die Kriegsbegeisterung. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die futuristischen Manifeste vor den Weltkriegen entstanden, dass die Futuristen den globalen, sinnlos vernichtenden, kampfstoffeinsetzenden Krieg noch nicht erlebt haben und diese radikalisierende Äußerung den Blick auf die gesamte Bewegung – pauschal genommen – schlicht und einfach verfälscht: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ (Filippo Tommaso Marinetti, Futuristisches Manifest, 1909). Marinetti wollte radikale Veränderung der Welt und der Kunstszene – doch nicht um den Preis von Menschenleben!

Zu den führenden Futuristen aus typografischer Sicht zählen in Italien: Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), Emma Marpillero (1896–1985) und Carlo Dalmazzo Carrà (1881–1966), in Russland sind es die Mitglieder der Hyläa-Gruppe: Welimir Chlebnikow (1885–1922), Alexei Krutschonych (1886–1968) und Wladimir Majakowski (1893–1930).

 

Dadaismus: Anarchie und Ablehnung um jeden Preis

Thumbnail image Thumbnail image Das Versagen der abendländischen Kultur und ihrer gesellschaftlichen Strukturen, das sich im Ausbruch des Weltkriegs manifestiert hat, führte zur Entstehung einer Protestbewegung, die grundsätzlich gegen Alles gerichtet war. Der aus der ablehnenden Haltung heraus entstandene Dadaismus definiert sich dadurch, dass er nicht definierbar sei.

Ab Februar 1916 treffen sich die Gründer im „Cabaret Voltaire“ in Zürich, um die s. g. „Dada-Soiréen“ zu veranstalten. Hier bringen sie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck. Anarchie und Provokation, Individualismus und Nihilismus, Sarkasmus und Spott sind Mittel, die die Gesellschaft verunsichern, verwirren und zum Nachdenken zwingen sollen. Die herrschenden Auffassungen und Wertvorstellungen sind Illusion – der fortgeschrittene Bürger befreit sich davon und nimmt an der Erschaffung einer ehrlichen Welt teil. Die Bewegung erreicht mit ihrer revolutionären Haltung bald New York, Paris und Berlin.

Die Dadaisten laden die Künstler zum Umdenken ein – so eröffneten sie den Zugang zu neuen Sicht- und Denkweisen. Antikunst lautet die Devise. Zufall ersetzt die Planung. Die Stile werden untereinander gemischt: Literatur, Bild, Typografie, Ton und Theater werden in bruitistischen Spektakeln zusammengeführt. „Selten in der Geschichte waren der inhaltliche Anspruch und die umgesetzte Form so eng zusammen und bedingten sich geradezu wie bei den Lautgedichten und akustischen Collagen, die eine neue Poesie hervorbrachten.“ 40

Typografisch bietet Dadaismus eine gewisse Ästhetik und Originalität. Durch den Bruch mit den Konventionen wirkt er erfrischend und herausfordernd: „Die Dada-Typografie war für die Werbegestaltung oder Informationstypografie völlig ungeeignet. Auf individuelle,gestalterische Versuche wirkte diese befreite und befreiende Gestaltung seit damals immer wieder sehr anregend und erneuernd. Handwerkliche Setzerregeln wurden völlig missachtet. Es wurden unfachliche Schriftmischungen in Schräg- und Rundsatz collagiert, die Buchstaben und Wörter tanzten wie in freiheitlicher Entrückung über die Formate. So wurden Einzelbuchstaben zu Bildelementen in einer Gesamtkomposition. Gewohnte Textabläufe wurden zugunsten optischer Bildüberlegungen zerteilt.“ 41

Berühmteste Vertreter des Dadaismus: Marcel Duchamp (1887–1968), Francis Picabia (1879–1953),  Man Ray (Emmanuel Radnitzky) (1890–1976), Raoul Hausmann (1886–1971), John Heartfield (H. Franz Josef Herzfeld) (1891–1968), Hannah Höch (1889–1978), George Grosz (1893–1959), Hans Richter (1888–1976), Viking Eggeling (Hellmuth Viking Fredrik) (1880–1925), Kurt Schwitters (1887–1948), Max Ernst (1891–1976), Hans (Jean) Arp (1886–1966)

 

Konstruktivismus: gegenstandslose Komposition der Geometrieformen

Дла голоса Thumbnail image Der Sieg der Revolution in Russland bedeutet vorerst das Ende der traditionellen Kunst. Neue, dem herrschenden Volk angepassten Darstellungsformen, die das Kollektiv objektiv repräsentieren,  werden gefragt. Nicht Individualisten, sondern Kunst-Ingenieure sollen neue Form- und Ausdruckssprache für die Kommunisten finden. Revolutionärer als bei Kasimir Malewitschs Bildern „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ oder „0,10“ (1913–1915) geht es nicht mehr. Gerade dieser Bruch mit der Tradition, die Radikalität und Einfachheit ermöglichen es den Nachfolgern, mit dem Vokabular der geometrischen Formen zu experimentieren. Es entstehen Bücher, Plakate, Collagen und Illustrationen, die lediglich mit den Mitteln der konstruierenden Montage arbeiten. Spartanisch, dynamisch, manchmal gelungen und schön.

Wie jede avantgardistische Mode des XX. Jahrhunderts verbreitet sich der Konstruktivismus in Europa. El Lissitzky verbringt vier Jahre in Deutschland, wo er auch am Bauhaus tätig ist. Die konstruktivistischen Bauhaus-Tendenzen stammen direkt aus dem Sowjet. Die Idee erreicht bald Niederlande (Mondrian und „De Stijl“), Polen, Jugoslawien und Tschechoslowakei.

Für die Konstrukte wird auch die Typografie verwendet: einzelne Buchstaben übernehmen häufig gestalterische Aufgaben und werden zu Sinnbildern der Botschaft. Die Antiqua- und Frakturschriften sind für die Kinder der Revolution zu rückständig. Die modernen Alphabete bestehen meist nur aus Versalien, übermitteln Kurzbotschaften in Stichworten und sind keinesfalls mengentexttauglich. Durch die Konstruktivisten ist der Weg für die geometrische Konstruktion der Groteskschrift geebnet.

Russland selbst ist nach wenigen Jahren der Begeisterung für den Konstruktivismus mit den reduzierten, abstrakten Aussagemitteln nicht zufrieden. Totalitäre Systeme bevorzugen Nationalrealismus mit Bildern von zufriedenen und starken Menschen. Konstruktivismus wird diffamiert und später sogar verboten. Ähnliches Schicksal erwartet wenige Jahre später die Avantgardisten im Deutschland.

Bedeutende Konstruktivisten: Kasimir Malewitsch (1879–1935), Piet Mondrian (1872–1944), Willi Baumeister (1889-1955), El Lissitzky (1890–1941), László Moholy-Nagy (1895–1946), Thilo Maatsch (1900-1983).

 

Expressionismus: Ausdruck des verletzten Individualismus

Die Brücke Oskar Kokoschka, Plakat. Basierend auf den ausdrucksintensiven Bildern Vincent van Goghs (1853–1890) und Edvard Munchs (1863–1944) spiegelt der um 1910 entstehende Expressionismus das Lebensgefühl einer jungen Generation, die einerseits aus den starren Rahmen der gleichgültigen und verlogenen Gesellschaft auszubrechen versucht, andererseits die durch die Industrialisierung und Politik verletzte individuelle Seele zum Ausdruck bringen möchte.

Das Ur-Menschliche des Afrikanischen und Ozeanischen, das die Völkerkunde-Museen zu Beginn des Jahrhunderts füllt, wird neu entdeckt und erforscht. Die junge Psychoanalyse Freuds bringt weitere Impulse für die Suche nach dem eigenen „Ego“. Nietzsche wird zum Ziehvater des Expressionismus erklärt: alles wird in Frage gestellt.

Spontaneität und „das individuelle Erleben“ des Motivs sollen im (bildlichen) Ausdruck spürbar und nachvollziehbar sein.

Eines der bevorzugten Mittel des künstlerischen Ausdrucks der Expressionisten ist der Holzschnitt. Das Grobe an Materialien und Werkzeugen erlaubt zügiges und spontanes, ja expressives Arbeiten.

Die Typografie des Expressionismus ist ausdrucksstark und innovativ, überzeugend und individualistisch; sie ist somit für Plakate, Buchumschläge oder Akzidenzen gut zu gebrauchen – für den Satz längerer Texte jedoch völlig ungeeignet. Sie bedient sich häufig der Steinlithografie, des Linol- und des Holzschnitts.

Bedeutende Expressionisten: Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Erich Heckel (1883–1970), Max Pechstein (1881–1955) Wassily Kandinsky (1866–1944),  Alexej Jawlensky (1865–1941), Franz Marc (1880–1916), Oskar Kokoschka (1886–1980) Gabriele Münter (1877–1962), Marianna Werjowkina (1860–1938).

 

Art Deco: Eleganz des Ausdrucks

Cassandre: Plakat. Cassandre: Plakat. Die Grundsätze der Wiener Werkstatt, die die gewerbliche und industrielle Seite des Jugendstils um die Jahrhundertwende repräsentiert, gelten auch für die Gründer der Art Deco Bewegung: sie wollen die Welt schöner machen. Der Konsument wird mit der Eleganz der Form und Kostbarkeit der verwendeten Materialien angelockt.

Die Gesellschaft hat Gründe zu feiern: der Weltkrieg ist zu Ende, die Welt ist elektrifiziert, sie swingt, jazzt und feiert aus allen Röhren.

„…(der) typografische Stil ging (…) von einer Anreicherung der elementaren Formen mit Ornamenten und mit vielfältigem Dekor. Neben dem geometrischen Ansatz gehören florale und figurative Motive, die in kubischen Abstraktionen verwandt wurden, zu den Hauptmotiven des Art Deco. Es entstanden modisch-zeitgeistige Chiffren, die in den Niederlanden, Frankreich, England, in der Schweiz, in den osteuropäischen Ländern und den USA zu großer Blüte und Verbreitung kamen.“ 42

Die Schriften werden nicht direkt aus den geometrischen Formen konstruiert, sondern entfalten eine Wechselwirkung: von breit zu schmal oder von hell nach dunkel. Häufig wird optische Täuschung in der Verspieltheit der Linien angewandt oder der Versuch unternommen, räumliche Wirkung zu erzielen. Die Lesbarkeit der Texte ist zweitrangig: was zählt ist die Dekoration.

Einige Art Deco-Vertreter: K. Hlavaček (1874–1898), A. M. Cassandre (1901–1968), E. McKnight-Kauffer (1891–1954), J. Carlu (1900–1997), A. Brodovitch (1898–1971).

 

Elementare Typografie: sachlich und zweckgebunden

Herbert Bayer: Entwurf Inserat Die sozialen und politischen Änderungen haben Kunst- und Kulturschaffende veranlasst, sachlich modernisierende oder radikale und revolutionäre Impulse für die Gesellschaft zu initiieren. Der Bruch mit der Tradition und die Suche nach neuen Lösungen kennzeichnen die Bemühungen in der krisengerüttelten Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

Die reduzierte Formsprache der Konstruktivisten bildet den Ausgangspunkt für die Neue Typografie, die nach adäquaten Ausdrucksmitteln für die neuen technischen Möglichkeiten forscht. Viele der Künstler identifizieren sich mit den schon erwähnten Strömungen, andere gehören dem Bauhaus an, andere sind wiederum Einzelkämpfer: Karel Teige (1900–1951), El Lissitzky (1890–1941), Marcel Breuer (1902–1981), Jan Tschichold (1902–1974) und Kurt Schwitters (1887–1948).

Die zweckgebundene und informative Elementare Typografie wird vor allem im Bauhaus-Umkreis entwickelt; die Lehrbeauftragten bringen nach Weimar, Dessau und später nach Berlin neue Impulse aus der ganzen Welt. Ihre ganze Arbeit wird dem handwerklichen Grundsatz „Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers…“ 43 gewidmet. Die Erzeugnisse werden auf ihre praktische Anwendung hin aber auch hinsichtlich der Ästhetik, Eleganz und Wirtschaftlichkeit (der Bedarf seitens der Industrie) geprüft. Die Typografie wird im Rahmen der Typografie-Werkstatt unter der Leitung von Moholy-Nagy unterrichtet; in Dessau wird die Werkstatt ins Atelier für Grafik-Design umgewandelt.

Die in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts entwickelte Grotesk hat sich gegen die allgegenwärtigen Antiqua und Fraktur nicht durchsetzen können. Es existieren nur wenige gut ausgebaute Grotesk-Alphabete (zu den bekanntesten gehört Bertholds Akzidenz Grotesk).  Nun ist die Grotesk die ideale Schriftform der Neuen Typografie sowohl in konzeptioneller als auch in formalen Hinsicht. Es entstehen neue sowohl experimentelle als auch für den Mengentext einsetzbare Alphabete. Erwähnenswert ist hier die richtungsweisende Futura aus dem Jahr 1927 von Karl Renner (1878–1956), die Venus der Bauerschen Gießerei, die Albers von Josef Albers (1888–1976 und die Bayer von Herbert Bayer (1900–1985). Grotesk ist und bleibt die Schrift des XX. Jahrhunderts.

Weitere berühmte Persönlichkeiten des Bauhauses haben – wenn auch nur mittelbaren – Einfluss auf die Entwicklungen der Elementaren Typografie: Johannes Itten (1888–1967), Paul Klee (1879–1940), Wassily Kandinsky (1866–1944), Oskar Schlemmer (1888–1943), László Moholy-Nagy (1895–1946), Mies van der Rohe (1886–1969).

 

Weitere Entwicklung bis zum II. Weltkrieg

Skizze Die Schrift ist – wieder einmal – ein ideales Mittel im Propagandakrieg. Das Lager der Nationalisten bei den Wahlen 1932 usurpiert für sich selbstverständlich die ‚deutsche‘ Fraktur, jenes der „Neuerer“ (Kommunisten, Sozialisten) verwendet mit Vorliebe die ‚neuen‘ Grotesk- bzw. Akzidenzschriften und die Konservativen schwanken zwischen den beiden. Unbeachtet bleibt im deutschsprachigen Raum bis 1941 die ‚traditionelle‘ Antiqua.

Immer mehr Theoretiker nehmen sich der Schrift-Themen an und untersuchen die Typografie hinsichtlich der Gesetze der Lesbarkeit, der Psychologie des Menschen, der Geschichte oder der Technologie. Zu den führenden  typografischen Gestalten des XX. Jahrhundert – die zunächst an der Seite der „Neuen Typografie“ steht – gehört Jan Tschichold, der wie kein anderer die Schrift vom Handwerklichen bis zum Theoretischen meisterhaft verstanden und sein Wissen ebenso umgesetzt und weitergegeben hat.

Der Erfolg der deutschen Futura verblüfft die konservative Typografie-Szene. Die englische Johnston, die schon 1916 für die Londoner U-Bahn konzipiert worden ist, wird auf einmal populär; der an der Entwicklung dieser Schrift beteiligte Eric Gill entwirft in den Jahren 1928–1932 die bis heute beliebte Gill Sans. Harry L. Gage, der Direktor der amerikanischen Mergenthaler Linotype Company beauftragt im Jahr 1929 W. A. Dwiggins mit dem Entwurf einer neuen Gothic, die den neuen europäischen Grotesk-Schriften ebenbürtig sein soll: es entsteht die Metro-Familie (Metroblack, Metrolite und Metromedium).

 

Typografie auf dem Weg ins digitale Zeitalter

Helvetica Der II. Weltkrieg verursacht ein abruptes Ende für die vielfältigen avantgardistischen Bewegungen in Europa. Jeder künstlerischer Fortschritt nach der Machtergreifung in Deutschland wird als kommunistisch eingestuft und verboten. Viele führende Persönlichkeiten verlassen das Land in Richtung Schweiz oder emigrieren in die USA.

Nach dem II. Weltkrieg wird die typografische Szene zunehmend international. Es entstehen Zentren der Typografie. Zunächst wird für lange Zeit die Schweiz zum „Mekka der Typografie“. Hier entsteht die „Top 1“ der Hit-Parade der besten Schriften aller Zeiten. Die Allgegenwärtigkeit der Akzidenz Grotesk und der Venus veranlasst die D. Stempel AG zur Aufnahme der „Neuen Haas-Grotesk“, die 1956 von Max Miedinger (1910–1980) für die Haas´sche Schriftgießerei entwickelt worden ist, in das Verkaufsprogramm der Gießerei. Ab 1960 steht die Schrift unter dem Namen Helvetica für die Linotype Setzmaschinen zur Verfügung. Die hohe Verfügbarkeit, weite Verbreitung aber auch ihre hohe Lesbarkeit und Bekanntheitsgrad der Helvetica veranlassen Adobe und Apple im Jahr 1985 diese Schrift als Grundlage der typografischen Erstausstattung für Desktop Publishing auszuwählen.

Ein Schweizer Typograf erlangt ebenfalls weltweite Berühmtheit: Adrian Frutiger (1928–2015). Seine Schriften Univers, Frutiger, OCR-B und Avenir sowie seine typografischen Abhandlungen, Essays und Bücher sind für die Typografie des XX. Jahrhunderts wegweisend.

Später (1980-er Jahre) kommen starke erneuernde Impulse aus den Niederlanden. Wim Crouwel (*1928) begeistert die Design-Szene mit seinen teils radikalisierenden Entwürfen. Gerard Unger (*1942)  entwirft zahlreiche Schriften für die Linotype, aber auch für die Amsterdamer Metro oder die Autobahn. Er unterrichtet an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und an der University of Reading. In Den Haag unterrichtet an der Koninklijke Academie van Beeldende Kunsten in den Jahren 1960–1990 Gerrit Noordzij (*1931), der die typografische Begeisterung und sein Fachwissen an unzählige Studenten weitergibt.  Aus seinem Umfeld kommen: Rudy VanderLans (*1955), Martin Majoors (*1960), Albert-Jan Pool (*1960), Peter-Matthias Noordzij (*1961), Fred Smeijers (*1961), Luc de Groot (*1963), Just van Rossum (*1966), Erik van Blokland (*1967) u. a.

Wichtige Akzente setzen aber auch einzelne slowakische (Peter Bilak, Zuzana Ličko), britische (Neville Brody, David Quay, Freda Sack, Adrian Williams, Peter Saville, Malcolm Garrett, Jonathan Barnbrook, Rian Hughes), deutsche (Otl Aicher, Hermann Zapf, Kurt Weidemann, Hans Peter Willberg, Günter Gerhard Lange, Erik Spiekermann, Georg Salden, Achaz Reuss, Ole Schäfer) und amerikanische (Tobias Frere-Jones, Jonathan Hoefler, Robert Slimbach, David Berlow, Roger Black, Matthew Carter, Jonathan Corum, Cyrus Highsmith, Richard Lipton, Christian Schwartz, David Carson) Typografen. Adam Twardoch errang als Spezialist und Consulter für Fragen zur Digitalisierung und Codierung der Schrift weltweite Bekanntheit.

Zu Beginn des digitalen Zeitalters in den 1980-er Jahren und kurz darauf mit der Verbreitung des World Wide Web verliert Nationalität an Bedeutung. Alles wird der Technologie unterzogen: sämtliche Schriften müssen – unter Wahrung der Lizenzfragen – schleunigst digitalisiert werden. Dabei werden von führenden Softwarehäusern Schrifttechnologien entwickelt, die für die kommenden Jahre maßgeblich sind. Nach und nach werden die Unzulänglichkeiten dieser Formate offensichtlich: das führt zu den oft undenkbaren Kooperationen, die jedoch in produktiven plattform-, software- und sprachkodierungsübergreifenden Schriftformaten münden.

Typografisch werden in der Designerbranche die schreierische Originalität und die dekorative Funktionalität – häufig auf Kosten der Qualität – in den Vordergrund gestellt. Kugelschreiber-Kritzeleien, Collagen oder digitale Randomizer werden zu Messiassen der Typografie erklärt; dabei sind sie nach wenigen Wochen schon wieder out …

Die Schriftenmenge, die in die Angebotsprogramme der Schrifthäuser aufgenommen wird, ist geradezu inflationär und nicht mehr überschaubar. Ein typografisch geschultes Auge ist notwendig, um in der Fülle des Angebots die – immer seltener anzutreffende – Qualität oder tatsächliche Neuerung zu erkennen. Man wird das Gefühl nicht los, alles ist schon mal da gewesen und wird dennoch endlos vervielfältigt, kopiert und reproduziert.

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37    Ausgeschlossen sind hier selbstverständlich die technologischen Errungenschaften des XX. Jahrhunderts: der experimentelle Einsatz der Fotografie in den 1920 Jahren, der optomechanische Satz in den 1970 Jahren und die Computer-Revolution rund um das Jahr 1985.

38    Mina Della Pergola widmet im Jahr 1919 in Rom ihre „parole in libertà“ dem Buchstaben F.  Im „Il trionfo dell’F“ (der Triumph des F) wiederholt sie den Buchstaben F so lange, bis er triumphiert (im Stil „Sofffffooocamento | Auuffffff | trionfffo | all’inFiniiiiiito | Fffiorentina“). Es wird sogar ein einbuchstabiges Alphabet überlegt, doch das wäre dann doch aller Funktionalität und Sinnhaftigkeit beraubt. Der russische Futurismus (V. Chlebnikow) unternimmt da radikalere Versuche der Spracherneuerung …

39    Demetz P., Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche Avantgarde 1912–1934, Piper Verlag München: 1990, S. 194.

40    „Dadaismus“ in: Typographie – wann wer wie. Friedl F., Ott N., Stein B. (Hrsg.), Könemann Verlagsgesellschaft mbH Köln: 1998, S. 51.

41    w. o., S. 50.

42    „Art Deco“ in: Typographie – wann wer wie. Friedl F., Ott N., Stein B. (Hrsg.), Könemann Verlagsgesellschaft mbH Köln: 1998, S. 44.

43    Walter Gropius: Bauhaus-Manifest, 1918.